Eine kleine Abschiedsanalyse (oder: Was ich aus 155 Fragebögen gelernt habe)
Dieses Abschiedsschreiben wurde anlässlich meines Ausscheidens bei Publicis Media verfasst.
Hallo zusammen!
Heute ist mein letzter Arbeitstag.
Bei Fragen zur Arbeit mit DBS schreibt bitte Edgard Gomes. Wenn ein neues Verzeichnis hinzugefügt werden muss, wendet euch bitte an Katja Gerasimova.
Zum Abschied habe ich eine kleine Untersuchung durchgeführt. Sie ist scherzhaft gemeint und handelt von euch.
Vor etwa einem Jahr wurde im Unternehmen eine wunderbare Praxis eingeführt: Alle neuen Mitarbeiter füllten einen „Über mich“-Fragebogen aus. Der Neuling füllte ihn aus, die Personalabteilung schickte ihn an alle Mitarbeiter, und alle lasen ihn. Ich bin sicher, alle Soziophobiker fühlten sich damals umsorgt: Wenn man nun neuen Gesichtern auf dem Flur begegnete, konnte man leise vorbeigehen und später in aller Ruhe nachlesen, wer dieser attraktive Mensch eigentlich war.
In diesem Sommer hatte ich beruflich mit allen digitalen Abteilungen zu tun und habe oft, bevor ich zu jemandem ging, seinen Fragebogen gelesen. Na ja, eigentlich lüge ich – erst ging ich hin und las den Fragebogen danach. Warum ich gerade gelogen habe? Weil ich gründlicher wirken wollte: Fragebogen studiert, gut vorbereitet, hingegangen. Klug, gut gemacht. Aber die Realität war genau umgekehrt: „Zum Teufel, wer war das eben?“ Ziemlich planlos, ich geb’s zu.
In meiner Freizeit (okay, während der Arbeitszeit) habe ich eine kleine Recherche durchgeführt, oder wie man heute sagt – eine Studie, und alle Fragebögen in einer Tabelle zusammengefasst. 155 davon waren in meinem Posteingang erhalten geblieben. Sicher ist einiges verloren gegangen, aber was soll’s. Zuerst einmal muss ich feststellen, dass eine Menge, ja, eine geradezu sträfliche Menge an wunderschönen Frauen ins Unternehmen gekommen ist. Dafür hätte man zwar nicht die Fragebögen studieren müssen, ein einfacher Blick in die Runde hätte genügt. Aber die Vielfalt der Welt besteht unter anderem darin, dass man sie sowohl mit den eigenen Augen als auch mithilfe von Fragebögen erkennen kann. Puschkin würde sagen: „Für euch, nur für euch, meiner Seele Zarinnen, ihr Schönen!“
Zweitens erschien es mir uninteressant und sogar ein wenig grausam, die Fragebögen unter der Rubrik „Als Kind träumte ich davon, ein … zu sein“ zu analysieren. Denn die Träume waren Kynologe, Feuerwehrmann – und am Ende sind alle Werbefachleute geworden. Na ja, sei’s drum. Die Antworten in der Spalte „Ich liebe…“ bestätigen die bekannte Formel, dass alle glücklichen Familien auf die gleiche Weise glücklich sind. Und schließlich, drittens, war es weitaus interessanter zu sehen, was die Leute nicht mögen. Oder zumindest, was sie zuzugeben bereit sind, nicht zu mögen.
Also dann.
Ob ihr es wusstet oder nicht, unter uns gibt es eine Person, die keine stumpfen Messer mag und dies auch direkt so schreibt. Sie ist die Einzige – und dadurch umso wertvoller.
Vorhersehbar populär waren die Antworten „Verantwortungslosigkeit“ und ihre Schwester „Unzuverlässigkeit“.
Wie im echten Leben beklagen sich die Kollegen hier gerne über das Wetter. Besonders Kälte und Frost scheinen die Leute zu stören. In dieser Zeit fährt man bekanntlich besser mit dem Auto zur Arbeit, aber da lauern schon die gebührenpflichtigen Parkplätze, um die Laune zu verderben. Besonders schwer hat es jene eine Person, die „Menschen mit unklarer Bewegungsbahn in öffentlichen Verkehrsmitteln“ nicht mag.
Was unsere Leute aber am allermeisten auf der Welt nicht mögen, ist die Lüge in ihren verschiedenen Formen: Unwahrheit, Heuchelei, Unaufrichtigkeit, Betrug. Manche mögen die Lüge an sich nicht, andere präzisieren – „wenn man mich anlügt“, „wenn dreist gelogen wird“ und wenn „einfach so“ gelogen wird. Selbst die kleine List wird nicht gemocht, obwohl die List ja kaum eine richtige Lüge ist. An dieser Stelle möchte ich als Advokat des Teufels auftreten und die Lüge verteidigen. Denn nur dank ihr wurde der Mensch zum Menschen, und die Fähigkeit zu täuschen unterscheidet uns von den höheren Primaten. An dem Tag, als ein Affe den Grabstock seines Artgenossen auslieh und begriff, dass er ihn nicht zurückgeben musste, dem anderen sagen konnte, er habe ihn verloren, und ihm dafür nichts passieren würde – an diesem Tag wurde der Mensch geboren. Dank dieses Affen und seiner, äh, List sitzen wir jetzt in unseren Büros und verkaufen Banner pro Klick und pro Impression, mit Agenturprovision und einzigartiger Expertise.
Erinnern wir uns schließlich an Byron. (Don Juan, Canto XI, 37-38)
Doch was ist Lüge? Nur der Wahrheit Kleid,
Die Maske, die sie zur Parade schmücket.
Held, Dichter und Jurist, Geschichtsschreiber
Gebrauchen sie als Schminke für und für.
Der Wahrheit nackter Strahl, er würde leider
Die Chronik und die Fabeln allzumal
Und die Propheten samt und sonders braten –
Die nicht das lauf’ge Jahr zu deuten wagen.
Übrigens, wo wir bei Affen sind. Einer unserer Kollegen mag sie nicht. Tiere sind generell eine beliebte Gruppe, um Antipathien auszudrücken, aber es gibt einen Fragebogen, der, nein, der schreit nach einer Vorgeschichte. Man kann sich vorstellen, warum man Schlangen, Spinnen oder Insekten nicht mag. Aber was haben die GÄNSE getan? Womit haben die Gänse das verdient? Haben sie den kleinen Iwanuschka zur Baba Jaga getragen? Werde ich wirklich gehen, ohne die Antwort zu erfahren?
Unter uns gibt es jene, die es nicht mögen, Geschirr zu spülen und Hemden zu bügeln. Ich würde ihnen raten, nicht jenem einen Kollegen auf dem Flur zu begegnen, den Unordentlichkeit nervt. Unter uns wandeln Menschen, die Bloggern, Putin, dem FC Bayern München, Tom Cruise, Musicals und Beyoncé (im Original stand es wirklich so – Beyoncé, mit Akzent, er hat sich die Mühe gemacht; magst du sie wirklich nicht?) kühl gegenüberstehen. Sie mögen das Spiel „Mafia“, Klatsch, Maikäferlarven, Joggen und – mein Favorit – einen tödlichen Ausgang.
Einen tödlichen Ausgang!
Gehen wir was essen?
Zwiebeln. Arme Zwiebeln. Arme Götterspeise. Armer Brokkoli. Oliven, Graupen, Dill, Knoblauch. Armer roter Kaviar. Arme Sülze und arme Milchhaut. Womit haben die Pilze das verdient? Ich bin sicher, das ist ein Fehler. Man kann Pilze nicht nicht mögen. Arme Mayonnaise. Wobei, um die Mayonnaise ist es nicht schade.
Zwei Kollegen sind Mitglieder im Anti-Tomaten-Club: Einer mag Tomaten schroff und ohne Umschweife nicht, der andere scheint sich zu entschuldigen – „Tomätchen“ – entschuldigen Sie bitte, ihr Süßen, dass ihr mir nicht geschmeckt habt, alles Gute.
Armes, armes Mädchen, das zugab, nicht gerne zu kochen. „Ich hoffe, das ist nur vorübergehend“, schreibt sie als Anmerkung.
Überraschend wenige haben sich über Faulheit beschwert. Aber das liegt nur daran, dass an Faulheit nichts Schlechtes ist, oder?
Was für wunderbare, erstaunliche und unterschiedliche Menschen, nicht wahr? Wie es mir selbst hier erging? Meistens war es in Ordnung, manchmal einfach nur großartig. Manchmal war ich faul, manchmal habe ich ein wenig geflunkert. Einiges ist nicht so gut gelaufen, aber auf manches kann man sogar stolz sein. Alles in allem: Es war gut.
Danke für alles und macht’s gut!