Erschau!
In Deutschland habe ich mir angewöhnt, auf alles vorbereitet zu sein. Ein Termin bei einem Beamten? Ich schreibe ihm vorab eine E-Mail (Gott segne ChatGPT), recherchiere das Thema, schlage Vokabeln nach, schmiede einen Plan, blicke in die Zukunft.
Es läuft auch immer alles gut. Ich habe einen deutschen, ach was, einen super-deutschen Namen und eine passable Aussprache. Wenn ich also wenig rede, hält man mich manchmal sogar für einen von hier. Wenn ich aber etwas Komplexes sagen muss, kann ich meine russischen Latschen nicht mehr verstecken. Dann bricht Sergej aus Sören hervor wie bei „Alien“ aus dem Brustkorb und klettert auch nicht wieder zurück. So steht er dann da, mit Brot und Salz in der einen und einer Rübe in der anderen Hand.
Heute, während mein innerer Emelja-Sergej friedlich auf dem Ofen schlief, war ich bei der örtlichen Führerscheinstelle, um meinen russischen Führerschein in einem vereinfachten Verfahren anerkennen zu lassen. Alles lief wunderbar. Die Beamtin sagte, ich solle im Laufe der Woche einen Sehtest und einen Erste-Hilfe-Kurs machen, und ließ mich gehen.
Mit dem Sehtest wollte ich nicht lange fackeln. Was konnte da schon schiefgehen, in Russland hatte ich den seit meiner Kindheit unzählige Male gemacht. Der Test selbst ist kostenlos. Leichten Herzens ging ich also zum erstbesten Optiker. Dort bat mich ein junger deutscher Optiker um meinen Ausweis und setzte mich, nichts ahnend, an ein Testgerät, das an ein Periskop erinnerte. Er erklärte mir die Regeln, denen ich aber kaum zuhörte – was sollte schon passieren? Meine Sehkraft ist nicht die eines Adlers, ich habe sogar eine Brille, trage sie aber selten. Und Auto fahre ich immer ohne.
Im Periskop sah ich keine Buchstaben, sondern Kreise. Mehrere Reihen von Kreisen. Warum Kreise und keine Buchstaben? Sucht man mit einem Periskop vielleicht nach Minen? Ich teilte dem Optiker meine Entdeckung mit:
„Ich sehe Kreise, mehrere Reihen davon. Was soll ich tun?“
„In den Kreisen sind Lücken. Sie müssen sagen, auf welcher Seite die Lücke ist.“
Ehrlich gesagt, sah ich die Lücken schlecht, und die Kreise selbst auch – sogar die größten in der obersten Reihe. Aber das war nicht das Hauptproblem. Ich begann plötzlich darüber nachzudenken, wie ich die Positionen benennen sollte. Die Lücken waren vertikal, horizontal und diagonal angeordnet. Ich weiß, wie man auf Deutsch „links“, „rechts“, „oben“ und „unten“ sagt. Aber wenn die Lücke oben links ist, dachte ich, soll ich das einfach so sagen? Irgendwie verwarf ich diese offensichtliche Option und hatte eine Erleuchtung: Ich lebe in Kiel, atme Meeresluft, sehe jeden Tag Möwen und Schiffskarawanen durch die Förde und den Nord-Ostsee-Kanal ziehen – also beschloss ich, mich aus der Affäre zu ziehen, indem ich die Lücken nach den Himmelsrichtungen benannte. War die Lücke oben rechts, wurde sie für mich zu Nordost. War sie unten links, wurde sie zu Südwest. Der Optiker hat sich wahrscheinlich an die Stirn getippt, aber den Test fortgesetzt.
Ich glaube, ich habe sogar, ganz im Ernst, nicht „Südwest“, sondern „Süüd-West“ gesagt, wie ein Pirat, der sich bereit macht, das Optikergeschäft zu entern.
Falls Sie an diesem Punkt den Verdacht hegen, dass ich auf den Sehtest nicht vorbereitet war, haben Sie vollkommen recht. Die Improvisation schlug fehl.
Mein deutscher Nachname – Erschau – klingt, als würde ich mein ganzes Leben in Schleswig-Holstein leben und meine Vorfahren schon seit sechshundert Jahren. Zufällig ist er auch der Imperativ des Verbs „erschauen“.
Sieh! Erblicke! Erkenne!
Mir gefällt dieser Zufall sehr, weshalb ich bei der Bestellung meiner Kreditkarte, als ich die Wahl hatte, einfach nur den Nachnamen auf die Karte schreiben ließ: Erschau.
Nach fünf Minuten Qual teilte mir der Optiker mit, dass ich den Test leider nicht bestanden hätte. Statt Indien hatten wir Amerika entdeckt, und als U-Boot-Kapitän würde man mich nicht nehmen. Ich hatte diese verdammten Lücken nicht erschaut und werde morgen versuchen, sie zu erschauen – diesmal ohne Kompass und eine Flasche Rum.
Aber eines weiß ich genau: Wenn man Lücken erschauen muss, um ans Steuer zu dürfen, dann werde ich sie erschauen. Wenn ich durch ein Periskop schauen und einen Torpedo abfeuern muss, werde ich ihn abfeuern. Selbst wenn auf der anderen Seite Jack Flint, Jack Sparrow oder Amber Heard stehen (besonders dann).
Und noch etwas: Sören ist kein Fußgänger. Merkt euch das. Er wird das Periskop auch zum Erste-Hilfe-Kurs mitbringen.