Sören Erschau

Der Genosse Major in meinem Kopf

Wenn sie Strümpfe anzieht, kommt der Herbst, heißt es. Der Dezember aber kommt, wenn ich die Lichterkette einschalte. Das wird nicht das letzte Mal in diesem Text sein, dass ich Brodsky zitiere.

Dies ist der traditionelle, jährliche Post mit der Weihnachts-Playlist #playlistchallenge2021. Um zur Playlist zu gelangen, müssen Sie eine Prüfung bestehen – das Ende dieses Textes erreichen. Es gibt zwei Wege, einen einfachen und einen schwierigen: lesen oder scrollen. Ihr Psychotherapeut würde sagen, dass Sie in jedem Fall die richtige Entscheidung treffen werden. Weil Sie ein toller Mensch sind.

Ein Psychotherapeut würde so etwas niemals sagen? Ein staatlicher, kostenloser Psychotherapeut schon. Der würde noch ganz andere Sachen sagen.

Beginnen wir dieses Essay also vielleicht hiermit: Im vergangenen Jahr habe ich viel mit einem Cuttermesser gearbeitet und dabei einige unkonventionelle Anwendungsmöglichkeiten entdeckt. Zum Beispiel kann man mit einem Cuttermesser leicht und sauber eine Orange schälen; ein nützlicher Lifehack für die bevorstehenden Feiertage. Man macht es so: Man fährt die Klinge ein wenig aus und fixiert sie. Nun nimmt man die Orange und zieht mit der Klinge Meridiane auf ihr – man teilt die Orange in Zeitzonen. In der Regel genügen vier Meridiane, aber es können auch mehr sein, wenn Sie ein geborener Magellan sind, oder wenn Sie die Grenzen afrikanischer Staaten schon immer verwirrt haben, oder wenn Sie einfach gerne schneiden. Solche Menschen gibt es ja auch.

Ein Tipp: Versuchen Sie, Russland nicht zu zerschneiden, falls Sie es auf der Orange entdecken. Das ist gefährlich. Wer weiß, ob Sie bei der Orange aufhören oder sich nach Höherem umsehen. Also, schneiden Sie vorsichtig, sonst müssen Sie sich vor dem wachsamen Genossen Major rechtfertigen.

Hier kommen wir fließend zur Hauptfigur des vergangenen Jahres: dem Genossen Major, der den Staffelstab vom Psychotherapeuten, dem Helden der Vorjahre, übernommen hat.

Wie jede Sammelfigur hat der Genosse Major kein konkretes Gesicht und keinen konkreten Rang, aber einige charakteristische Eigenschaften: Er ist klug, höflich und gnadenlos. Es ist sinnlos, ihm zu erklären, dass es nur eine Orange war. Sie können Europa und Amerika zerschneiden (wenn Sie es nicht verwechseln und treffen), dafür werden Sie höchstens auf Facebook gesperrt. Aber wer noch nie auf Facebook gesperrt wurde, hat auch nicht das volle Leben gelebt.

Nur eine Orange? Tja, Sie hatten einfach Pech. Aber wie viele andere hatten Glück! Freuen wir uns für sie, alle sind gesund und munter, posten Dubai-Fotos auf Instagram, kaufen bei Alnatura ein und bestellen perfekt gelbe Bananen bei Gorillas. Perfekt gelb, verstehen Sie? Kein einziger Fleck. Haben wir jemals so gut gelebt?

Und die Orange… Nun ja, wirklich Pech gehabt. Sie können sich als das Lamm betrachten, das dem Genossen Major geopfert wurde – zum Ruhme der perfekt gelben Bananen. Ein gebratenes Lamm mit Orangen.

Im Großen und Ganzen ist also alles gut. Aber da es schwer ist, sich für andere zu freuen, und niemand sich selbst oder seine Liebsten als fremdes Essen vorstellen möchte, haben viele, die das früher nie taten, den inneren Genossen Major eingeschaltet, um sich vor dem äußeren Genossen Major zu schützen. Aus Selbsterhaltungstrieb – denn hinter Gittern werden keine perfekt gelben Bananen serviert.

Andererseits diszipliniert das Erscheinen des inneren Genossen Major ungemein. Nicht alle natürlich, aber wir sprechen ja von einem Trend, denken sozusagen „high-level“, wie manche geborenen Führer gerne sagen.

Stellen wir uns vor, dieser Text sei ein Rollenspiel, in dem wir alle der Genosse Major sind. Tatsächlich werden es gleich mehrere sein: Ich werde Ihr persönlicher Genosse Major sein (wie Personal Jesus, nur als Major), unverschämt-höflich, und gleichzeitig mit meinem eigenen sprechen. Und Sie, Sie lesen einfach zu. Das wird Ihre Rolle sein.


Also, fangen wir an.

Nun, wie war das Jahr? Haben Sie alle Ihre Traumata mit dem Psychotherapeuten aufgearbeitet, oder gibt es noch viel zu graben? Nehmen Sie sich ein Beispiel an Oxxxymiron oder sterben Sie lieber als No-Name? Haben Sie Rap gehört? Na, wenigstens ein bisschen? Zum Vergnügen?

Den Browserverlauf gelöscht? Mit Sputnik geimpft? Light oder die normale Dosis?

Wo planen Sie zu sterben – in der Emigration oder kommen Sie doch an die Küste zurück? Wenn Sie alt sind oder wenn das Leben eine falsche Wendung nimmt?

Tor benutzt? Aktiv oder nur ein, zwei Mal?

Wie steht’s mit den Freunden? Alles normal oder habt ihr euch voneinander entfernt? Und im Privatleben? Erinnern Sie sich an alle, mit denen Sie geschlafen haben? Auf Partys mit Fremden geknutscht? Leben Sie mit jemandem, den Sie lieben, oder nicht lieben? Oder wissen Sie es selbst nicht genau? Dieses Thema noch nicht aufgearbeitet?

Scrollen Sie auf der Toilette durch Instagram? Nun hören Sie auf zu lügen.

Sind Sie glücklich oder tun Sie nur so?

Leben Sie oder tun Sie nur so?

Warum ich nicht wie ein Psychotherapeut klinge? Weil ich der kostenlose, staatliche Psychotherapeut bin, den Sie noch nie hatten.

Denken Sie über die Antworten nach. Ich ziehe mich kurz für die nächste Rolle um und erzähle dann was über Musik.

(zieht sich um)


Letzten Dezember habe ich eine Playlist gemacht, in der kein einziger amerikanischer Musiker war. Damals war das keine Absicht, es ergab sich zufällig. Diesmal ergab es sich völlig absichtslos genau umgekehrt, aber wen kümmert in unserem gefährlichen Jahrzehnt die fehlende Absicht? Gestatten Sie die Frage: Nach welcher Zahl haben Sie aufgehört, Ihre Sexpartner zu zählen? Wahrscheinlich, als die Ziffer zur Zahl wurde? Genauso habe ich aufgehört zu zählen, wie viele Amerikaner sich in dieser Playlist eingenistet (versteckt!) haben. Viele – so viele. In unserer gefährlichen Zeit ist es gefährlich, Amerikaner zu lieben. Vielleicht berührt es das Herz des Genossen Major, dass ich vor allem die Stimmen und Talente amerikanischer Frauen liebe? Und ja, Lenny Kravitz, aber das war nur ein einziges Mal! Neben Lenny gab es ja auch Gutes! Ich kann alles erklären! Schuldig, aber ich verdiene Milde!

– Nun, erklären Sie mal.
– Ich habe nachgezählt, es sind trotzdem mehr Briten!
– Briten sind auch Angelsachsen. Trau keinem von der Insel.
– Und Iren? Es gibt drei, einer singt mit einem furchtbaren irischen Akzent über Freundschaft. Und viele Schwarze! Na ja, nicht direkt viele, aber es gibt sie. Es gibt Schwarze, ich schwöre! Nehmen wir Arlo Parks. Zugegeben, sie ist lesbisch, aber ich bin sicher, das ist nur vorübergehend. Also, das mit der Lesbe, schwarz ist sie für immer.
– Und warum kein einziger Russe?
– Weil… ich weiß nicht, warum. Eigentlich ist ja einer da, aus Wladiwostok…
– Erstens, nicht mehr aus Wladiwostok, er ist schon lange in Moskau. Und zweitens, warum singt er nicht auf Russisch und nicht mal auf Englisch, sondern in einer Fantasiesprache?
– Ich weiß nicht. War ein Fehler, der Teufel hat mich geritten. Aber ich werde mich bessern, nächstes Jahr gibt es Russen, viele, versprochen. Sieben oder acht. Mindestens sieben!
– Sieben ist nicht viel.
– Dann wird es insgesamt nur sieben Songs geben. Sieben von sieben. Einhundert Prozent. Einhundert Prozent Russen. Das ist doch viel, mehr geht nicht.
– Ich glaube, Sie labern nur Scheiße.
– Ehrlich gesagt… ja. Aber an meiner Stelle würden Sie das auch tun. Sie würden sagen, es gäbe nur Schwarze, nicht-binäre Personen und, na ja, all das. VkusVill hat sich ja auch entschuldigt, obwohl es nichts zu entschuldigen gab. Vor Kadyrow entschuldigen sich alle. Entschuldigen Sie mich bitte auch.
– Sie haben alles falsch gemacht. Und Sie machen es immer noch.
– Einverstanden, dieses Jahr habe ich vieles falsch gemacht. Aber dafür habe ich gelernt, einen Portalkran zu steuern, war um acht Uhr morgens bei der Arbeit, habe gefährliche Beziehungen vermieden (ungefährliche übrigens auch) und bin nicht schneller als 140 km/h gefahren.
– Weil der Tacho nicht mehr anzeigt.
– Was nicht geht, das geht nicht. Ich habe auch Schnee geschippt, mit diesen Händen hier eine verdammte Tonne Schnee bewegt. Dann habe ich zehntausend von einem Inkassobüro zurückgeklagt. War Zeuge der Anklage in einem Strafverfahren, habe einem Freund einen Gutschein für einen Sexshop gekauft und konnte einem Achtjährigen nicht erklären, was Sex ist, weil ich auf die Frage nicht vorbereitet war.
– Und was haben Sie geantwortet?
– Dass Sex ist, wenn ein Mann und eine Frau sich umarmen, küssen und so… und es ihnen gut geht. Dann habe ich hinzugefügt: nicht unbedingt ein Mann und eine Frau – einfach Menschen. Ein Mensch mit einem Menschen. Menschen mit Menschen, Dorf mit Dorf. Greta Thunberg mit einem Waschbären.
– Genug. Was hat man Ihnen in der vorletzten Sitzung gesagt?
– Dass der Genosse Major jeder sein kann: ein äußerer, ein innerer, ein virtueller. Der Psychotherapeut aber nur ein äußerer. Dass man einen blöden Text als Essay bezeichnen kann und damit durchkommt. So ein geheimer Cheat-Code. Und man hat mir gesagt, ich solle nicht zur letzten Sitzung kommen.
– Wissen Sie, warum man Ihnen das gesagt hat?
– Warum?
– Weil man in der letzten Sitzung erklärt, dass es keinen Cheat-Code gibt. Aber das tut weh, und nicht jeder will das hören.
– Wie bei Kung Fu Panda, im ersten Teil? Es gibt keine geheime Schriftrolle?
– Das ist etwas anderes. Dort ging es darum, dass man keine geheime Zutat braucht, um ein Held zu sein. Du bist schon gut genug. Der übliche therapeutische Sinn.
– Und was ist der Sinn hier?
– Der Sinn ist, kein Messer und keine Orange in die Hand zu nehmen, wenn jemand zusieht.


Anfangs hieß diese Playlist „Eine umwerfend gute Playlist“. Ein etwas unbescheidener Titel, dessen Unbescheidenheit ein wenig zu schrill war. Also beschloss ich, die Zuverlässigkeit dieses Namens einer ernsthaften Prüfung zu unterziehen: Ich schickte sie meiner Ex-Frau. Sie sagte, es widerstrebe ihr, das zuzugeben, aber ihr hätten alle Songs gefallen. Ich habe noch ein paar weitere gute Songs hinzugefügt und schenke sie nun euch. Und wisst ihr, wenn sie schon meiner Ex-Frau gefallen hat, dann sollte sie euch, meinen besten Freunden, erst recht gefallen. Andererseits ist die Playlist vielleicht auch totaler Mist, und sie macht sich nur Sorgen, dass ich aufhöre, den Unterhalt zu zahlen.

Ein paar Worte zum Inhalt:

  1. Hier findet ihr viele leuchtende, effektvolle Indie-Dance-Songs in Dur – und ein Lied, das dem verstorbenen fünfjährigen Sohn eines Künstlers gewidmet ist.

  2. Die Engländer von Elder Island machen einen umwerfenden, ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, sagen wir, einen umwerfenden Folk-House. Sehr strahlende, sehr effektvolle elektronische Songs. Wenn Sie meine Meinung wissen wollen – der absolute Wahnsinn.

  3. In der Playlist gibt es viele Coverversionen alter, bekannter Lieder.

  4. Lady Gaga hat gute Songs. Ich kenne zwei, einer davon ist hier.

  5. Man sollte seine Band nicht „Trans“ nennen, selbst wenn man Bernard Butler ist. Nicht, weil es ein schlechter Name wäre, sondern weil er sich beschissen googeln lässt (was ihn also doch zu einem schlechten Namen macht).

  6. Ihr werdet die Musikvideos aus den Jahren 2020 und 2021 – der Pandemiezeit – leicht erkennen, weil darin nur wenige Menschen zu sehen sind, manchmal sogar nur eine einzige Person. So spaziert zur Musik von Jessie Ware am 14. Februar die unanständig schöne Gemma Arterton allein durch das nächtliche London, und man kann nicht umhin zu bemerken, dass sie besonders schön ist, wenn sie weint.

  7. Ihr werdet einen Song über einen traurigen Cowboy finden, geschrieben von einer Londoner Band, die aus drei Frauen und einer nicht-binären Person besteht (auf Instagram stellt sich die Gruppe in ihrem Profil rührend vor: drei „she“ und ein „they“. Ich finde das sehr süß).

  8. Ihr werdet entdecken, dass Anni-Frid Lyngstad direkt nach der Auflösung von ABBA mindestens einen guten Song aufgenommen hat.

Ich weiß nicht, vielleicht war für alle die Verbindung zwischen Frida-82 und dem späteren Sound der 90er offensichtlich, aber ich fühlte mich bei dieser Entdeckung wie Magellan. Manche mögen es, neue Horizonte zu entdecken, manche schneiden gerne Orangen, und manche hören gerne Musik. Heutzutage ist es besser, all das ein wenig vorsichtiger zu tun.

Passt auf euch auf.

Viel Spaß beim Anhören!

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