Ich hasse dich, Noel Gallagher! (Und liebe dich)
Na, soll ich vielleicht mal so eine Art Jahresrückblick raushauen?
Ende dieses Jahres hatte ich plötzlich viel Zeit, um alle mögliche Musik zu hören. Zuerst dachte ich, ich sollte diese neu gewonnene Ressource vernünftig zwischen Büchern, Musik, Filmen und irgendwelchen anderen ungeplanten Nettigkeiten diversifizieren, aber am Ende habe ich mir eigentlich nur Musik reingezogen (was an sich ein guter Kompass ist – wenn man alle Selbstdisziplin ausschaltet und schaut, wohin es einen treibt; mich hat es in einen sicheren, wenn auch sibaritischen Hafen getrieben).
Ich bin ein sentimentaler und empfindsamer Mensch, ich kann bei einem Film oder einem Lied weinen, um das Schicksal von Buchhelden trauern. Gleichzeitig glaube ich, mit Ausnahme von zwei Wochen im Herbst und zwei Wochen im Frühling, an die Wissenschaft und weiß, dass das alles nur ein individueller Zustand der Neurotransmitter im Kopf ist. In diesen Herbst- und Frühlingswochen glaube ich statt an die Wissenschaft eher an Kreationismus, Intuition, Werwölfe und Volksweisheiten; dann will man den Mond anheulen, auf der Straße einem Geruch folgen und nach Kiew fahren, um sein eigenes Business zu gründen.
O. Henry hat das gut beschrieben: „Es gibt eine drollige alte Theorie, dass der Mensch zwei Seelen haben kann – eine äußere, die ihm ständig dient, und eine innere, die nur selten erwacht, aber wenn sie erwacht, intensiv und leuchtend lebt. Der ersten gehorchend, rasiert sich der Mensch, stimmt ab, zahlt Steuern, ernährt die Familie, kauft Möbel auf Raten und benimmt sich allgemein normal. Aber sobald die innere Seele die Oberhand gewinnt, ändert er im Nu seine politischen Ansichten, fügt seinem besten Freund eine tödliche Beleidigung zu, zieht sich ins Kloster oder in einen Tanzsaal zurück, verschwindet – oder schreibt Gedichte und Lieder, oder küsst seine Frau, wenn sie nicht darum gebeten hat, oder spendet all seine Ersparnisse für den Kampf gegen irgendeine Mikrobe. Dann kehrt die äußere Seele zurück, und vor uns steht wieder unser ausgeglichener, ruhiger Bürger.“
Noel Gallagher hat dieses Jahr ein Album herausgebracht. Ein sehr gutes – kaum genial, aber es gibt, wie man so schön sagt, eine kleine Nuance. Noel hat mit diesem Album eine kriminelle Sache gemacht: Er hat die drei besten Songs hintereinander platziert, und es sind Songs, die, verstehen Sie, deine zweite, innere Seele packen und aus dir herausziehen. Und es sind nicht mal Lieder über die Liebe, nicht zum Heulen, man könnte in jedem einen völlig anderen Text singen, es wäre trotzdem großartig, weil Noel einfach ein musikalischer Kerl ist. Und so gehe ich also morgens zur Arbeit, höre Musik auf meinem Player, einen Song gehört, einen zweiten, biege vom Leningradski-Prospekt in eine Toreinfahrt, um den langen Weg zu nehmen und den dritten Song zu Ende zu hören, und mitten im dritten Song halte ich es nicht mehr aus und fange direkt im Gehen an zu weinen. Als würde eine Frau ihren Kerl ausschimpfen: Wie konntest du nur, du Schwein, du hättest getötet werden können, du hättest dich zerschellen können, was hätte ich dann tun sollen, was? Sie schlägt ihm auf die Brust, umarmt ihn, küsst ihn.
So hörte ich Noel und schluchzte vor mich hin, was machst du nur, du Schwein, das kann man doch nicht machen! Mistkerl, Arschloch, ich hasse dich!