Warum „The Revenant“ nur ein guter Film ist (und kein Meisterwerk)
Ich habe den neuen DiCaprio gesehen, den, in dem Leo unmenschlich leidet. Verzeiht mir, aber Leo hat sich den Oscar auch dieses Mal nicht erlitten. Der Film ist generell nicht der gelungenste von Iñárritu. Er ist in allem gut, außer einer Kleinigkeit: An zentralen Handlungspunkten werden die Handlungen der Charaktere plötzlich unerklärlich unlogisch. Unnatürlich. Konstruiert. Man könnte das übersehen oder verzeihen (je nachdem, was einem lieber ist), gäbe es da nicht diese starke Dissonanz zwischen der unglaubwürdigen Spannung und der realistischen, sehr präzisen und extrem glaubwürdigen Textur.
Nicht nur sind die Aufnahmen maximal naturalistisch – eisiges Wasser, Dampf aus dem Mund und rohe Leber als Zwangsmittagessen – alles tipptopp, alles echt, ich glaube dir, Alejandro; und dieser ganze betonte Naturalismus ist nicht nur vorhanden, er wird auch wunderbar und ohne Effekthascherei durchgehalten.
Jetzt erzähle ich, was nicht stimmt. Hier sind drei Beispiele. Ohne Spoiler geht es nicht, also überspringt das hier, falls ihr noch am Oscar-Daumendrücken für DiCaprio teilnehmen wollt.
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Der Hauptantagonist will den Helden töten, als dieser, vom Bären zerfetzt, hilflos auf einer Trage liegt, sich weder bewegen noch sprechen kann und dem Bösewicht keinerlei Widerstand leistet, obwohl er alles versteht und einordnen kann. Dem Helden geht es so schlecht, dass niemand einen gewaltsamen Tod vermuten würde. Der Sohn des Helden sieht zufällig, wie der Bösewicht ihn erstickt, versucht einzugreifen und droht, die Szene öffentlich zu machen. Im folgenden Handgemenge tötet der Bösewicht den Sohn, lässt aber den Haupthelden am Leben, obwohl ihn nichts daran hindert, seinen Plan zu Ende zu führen. In diesem Moment lässt sich das vielleicht mit der Verwirrung des Bösewichts oder Ähnlichem erklären, aber die gesamte restliche Handlung stellt diesen Charakter als skrupellosen Schurken dar, der zu jeder Niedertracht fähig ist und bereit ist, ohne jeden Gewissensbiss zu töten und zu intrigieren, so oft es nötig ist.
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Der schlafende Held wird von Indianern überrascht, Verhandlungen sind unmöglich, sie werden ihn sofort töten. Also springt er hastig aufs Pferd, flieht unter Kugelhagel, stürzt aber mitsamt Pferd in einen Abgrund. Diese Indianer metzeln normalerweise alle Weißen nieder wie die Fliegen, aber dieses Mal machen sie sich warum auch immer nicht die Mühe, zum Grund der Schlucht hinabzusteigen (obwohl es nur ein Katzensprung ist) und nachzusehen, wohin der Flüchtling verschwunden ist. Selbst wenn diese Horde es eilig hatte, warum wurde kein Späher geschickt, um nachzusehen? Warum musste man ihn mit fast dem ganzen Stamm jagen, nur um ihn dann teilnahmslos zurückzulassen? Der Weiße hätte sicherlich etwas Wertvolles dabeihaben können: Felle, Waffen, vielleicht Geld. Dies ist der raue Norden; von den Toten sammelt man die Beute (Loot) ein. Selbst bei Jack London in romantischeren Zeiten interessierte man sich mehr für die Toten.
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Im Lager, in dem sich der Bösewicht niedergelassen hat, taucht ein Franzose auf, der den Indianerüberfall überlebt hat. Bei ihm findet man einen Flachmann, der dem sterbenden Helden gehörte. Im Lager glaubt man, der Flachmann müsste dem Sohn des Helden gehören, und macht sich auf die Suche nach ihm. Ein ganzer Trupp bricht auf (jedem wurden zehn Dollar versprochen, eine große Summe; eine Ranch in Texas kostete zweihundert Dollar), mit Fackeln, und sie reiten in den nächstgelegenen Wald, obwohl niemand weiß, wohin genau sie reiten müssen. Als alle ins Lager zurückkehren, stellt sich heraus, dass der Hauptbösewicht mit dem gesamten Geld aus dem geknackten Safe geflohen ist. Wohin er geflohen ist, ist dank der frischen Spuren mehr oder weniger klar. Man muss den Bösewicht nicht nur fangen, um ihn vor Gericht zu stellen, sondern auch das ganze Geld zurückholen. Und was passiert? Nur zwei machen sich auf die Suche: der Hauptheld und noch einer. Und diese Zweier-Besetzung wird einzig und allein deshalb zusammengestellt, um dem Film ein effektvolles Finale mit einem Nahkampf zwischen Antagonist und Protagonist zu sichern. Mit einem ganzen Trupp hätte man den Schurken natürlich schnell gefunden und ausgeschaltet, aber dann gäbe es kein Hollywood-Ende.
Was haben diese drei Episoden gemeinsam? An allen drei Stellen wurden die Drehbuchprobleme sehr einfach gelöst – nach dem Motto: Ach, das passt schon so. Man hat also beschlossen, sie nicht zu lösen.
Ich habe das alles geschrieben, weil ich es schade finde. Der Film ist ja gut. Er hätte ein Meisterwerk sein können, so ist er nur gut. Ich muss auch noch was zu Iñárritus Regie-Handschrift sagen: In „Birdman“ konnte man sich alles Mögliche ausdenken, alle möglichen Wendungen einbauen, da flog Michael Keaton durch New York, und alles war cool, weil das gewählte Genre es erlaubte. Man musste „nur“ gut spielen, die Kamera gut führen, gut schneiden, Musik, dies und das. Dort, in „Birdman“, wurde eine Fantasie verfilmt. Hier, in „The Revenant“, ist alles auf demselben Niveau, aber diese Komponenten allein reichten in diesem Genre nicht aus, weil man versuchte, die Realität zu verfilmen.
Das wär’s.
P.S. Die Kameraarbeit ist übrigens herausragend.