Die Sozial-Valentine
Genau genommen habe ich kein Recht, von meinen Valentinskarten im Plural zu sprechen. Aber eine Valentinskarte kann mehr wert sein als tausend Valentinskarten, so wie eine Liebe mehr wert sein kann als tausend Lieben.
Das war, damit die Mädchen jetzt gerührt sind. Jetzt zum eigentlichen Post.
An diesem Tag vor zwei Jahren erhielt ich eine SMS. Anonym über eine Website gesendet, befahl sie mir, ins Treppenhaus zu gehen und meinen Briefkasten zu prüfen. Im Kasten fand ich eine Valentinskarte, auf der in kleiner Kursivschrift der Text des Liedes „Sunday Morning“ von Maroon 5 aufgedruckt war.
So erhielt ich die erste Valentinskarte meines Lebens. Zugegebenermaßen geschah dies, als der Verfasser dieser Zeilen bereits 26 Jahre alt war, und in diesem Alter ist es einem Mann, milde ausgedrückt, scheißegal, ob er am 14. Februar eine Valentinskarte bekommt oder nicht. Ich weiß bis heute nicht, wer mir damals dieses Herz zugesteckt hat.
In der Schule bekam ich nie Valentinskarten. Aramis aus der letzten Reihe aber schon. Am 14. Februar sah er aus wie ein Fernsehmoderator, der einen riesigen Sack mit Zuschauerpost durchwühlt: „Man schreibt uns aus…“ – so viele Valentinskarten hatte der blauäugige Aramis. Und ich hatte keine. Das heißt, irgendwie schon… nennen wir sie „soziale Valentinskarten“. In Amsterdam gibt es ja auch Sozialprostituierte: Sie besuchen Behinderte, Gebrechliche und unheilbar Kranke – und der Staat bezahlt dafür. Mit den sozialen Valentinskarten ist es so ähnlich.
Die Musterschülerinnen Anja und Olja setzen sich hin und gestehen all jenen die staatliche Liebe, denen es ihrer Meinung nach an privater Liebe mangelt (sie irren sich fast nie), und zur Sicherheit schreiben sie dann auch allen anderen (weshalb sie sich überhaupt nie irren) – sodass niemand leer ausgeht. Nicht einmal er, der satt über den Zeilen „Lieber Aramis! Wir wünschen dir, zu lieben und geliebt zu werden!“ lächelt, geschrieben in zuversichtlicher Pionierhandschrift.
„Feiertage – das ist, wenn die Staatsblumen, die Gladiolen, in Kefirflaschen gestopft werden und man damit dicht den Sockel der Nische zustellt, wo, geschützt vor der Druckwelle einer vorbeirennenden Hooligan-Herde, der weiße Iljitsch steht und mit Ölfarbe blind glänzt“, schreibt Tatjana Tolstaja über den Achten März, als sie sich an ihre Kindheit als Siebenjährige erinnert.
Den 14. Februar gab es nicht – und plötzlich tauchte er, inspiriert von der amerikanischen Blumenlobby (wie sonst?), wie eine unerwartete Modeerscheinung auf, wurde übernommen und verlor dabei unterwegs alle religiösen und inhaltlichen Konnotationen. Wenn uns die Geschichte des Valentin etwas lehren sollte, dann Freiheitsliebe – aber auch Toleranz. Stattdessen erschien uns Valentin als ein imperativer Refrain des „Müssens“, und so ist er geblieben.
Zu Ostern, dem orthodoxen Osterfest, gab es in unserer Familie eine Tradition, ich erinnere mich gut daran, es sind meine leuchtendsten Erinnerungen. Am Samstagabend, vor dem Schlafengehen, legte ich meine kleine Uschanka-Mütze ans Kopfende meines Bettes. Ich konnte lange nicht einschlafen, kämpfte gegen den Schlaf an und wollte unbedingt einen Blick auf den Osterhasen erhaschen, der – so großzügig, aus unbekannten Gründen – die Mütze mit Süßigkeiten, bunten Eiern und frischem Gebäck füllte, dessen deutschen Namen ich längst vergessen habe. Es war eine deutsche, oder besser gesagt, eine gesamteuropäische Tradition und ein gesamteuropäischer Hase. Und es war wunderbar. Es gab darin keine Dogmatik – das Osterfest war orthodox, der Hase war deutsch, die Uschanka war wahrscheinlich aus Kaninchenfell. Und es war wunderbar. In dem Jahr, in dem ich aufhörte, an den Weihnachtsmann zu glauben, glaubte ich wahrscheinlich immer noch an den Osterhasen.
Ich glaube bis heute an den Osterhasen, und ich glaube an die Familie. An Valentin habe ich nie geglaubt. Valentin mochte mich nicht, und ich mochte ihn nicht.
Ehrlich gesagt kenne ich keinen einzigen Mann, mit Ausnahme von Blumenladenbesitzern, der von diesem Feiertag begeistert wäre. Aber allen, die feiern – ein schönes Fest. Liebt und genießt es.